
Der Atrato-Fluss in Kolumbien wurde 2016 als Rechtssubjekt anerkannt – ein historisches Urteil, das den Schutz des Flusses und seiner Bewohner:innen sichern sollte. Doch trotz dieser rechtlichen Anerkennung leidet das Flussgebiet unter Umweltzerstörung, kriminellen Bergbau und struktureller Gewalt. Eine Gemeinschaft von Wächter:innen setzt sich dafür ein, dem Fluss eine Stimme zu geben und seine Rechte durchzusetzen.

Der Fluss Atrato, der im Jahr 2016 durch das Urteil T-622 des kolumbianischen Gerichts als Rechtssubjekt anerkannt wurde, durchquert einen großen Teil der Bio-Geographie des kolumbianischen Departamento Chocó. Mehr als dreihundert Bäche, fünfzehn Flüsse und mehrere Sümpfe gehören zu seinem Einzugsgebiet und bilden das Rückgrat der Lebewesen, die an seinem Lauf leben und sich miteinander verflechten.
Für ihre Bewohner:innen – meist Afro- und Indigene Gemeinschaften – stellen die Flüsse und ihre Gewässer die Grundlage für Fischfang, Ernährung, Transport, Wirtschaft und verschiedene kulturelle Praktiken dar. In dieser Region sind die Flüsse das Leben. Sie sind der Kompass, die geografischen, zeitlichen und symbolischen Bezugspunkte, mit denen alles zusammenhängt. Der Atrato ist Gegenstand und Brücke eines umfassenden Netzes von mehr-als-menschlichen Beziehungen in dieser Landschaft.
Das Einzugsgebiet des Atrato befindet sich jedoch in einer tiefgreifenden sozio-ökologischen Krise aufgrund verschiedener Formen von langjähriger, kontinuierlicher Gewalt, die sich in seinen Strömen abgelagert haben: von kriminellen Goldabbau seit der Kolonialzeit, Quecksilber und giftige Substanzen in seinem Bassin über Abholzung, strukturellen Rassismus und die Vernachlässigung durch den kolumbianischen Staat, bis hin zu Zwangsumsiedlungen, Streitigkeiten über die territoriale Kontrolle und Routen für den Drogenhandel bewaffneter Gruppen (Rogelis et al. 2022). Auf diese Weise setzt sich die Vorstellung eines El Dorado fort.
Diese Formen der Gewalt und ihre konstanten Auswirkungen akkumulieren, sedimentieren und vertiefen sich im Laufe der Zeit und formen die Landschaft hin zum Toxischen und Ruinösen.
Sie alle stellen auf ihre Weise Bedrohungen dar und wirken sich direkt auf die Körper aller Wesen aus, die den Atrato bewohnen und mit ihm in Beziehung stehen (Gallon Droste 2023).
Um die Entstehung des Urteils T-622 genauer zu erklären: Im Jahr 2014 schlossen sich die Gemeinschaftsräte des Atrato zusammen und verklagten 26 staatliche Stellen im Rahmen einer Tutela-Klage wegen der Verletzung der Grundrechte schwarzer und indigener Gemeinschaften. Sie forderten den Schutz des Flusses, da sie von seinem Wasser abhängig sind. Daraufhin erkannte das Verfassungsgericht im Jahr 2016 mit dem Urteil T-622 das ganze Einzugsgebiet des Flusses als Rechtssubjekt an und bestätigte damit die Kontinuität zwischen den Gewässern und ihren Bewohner:innen.
Das Urteil hat einen ökozentrischen Ansatz. Es besagt, dass „die Erde nicht dem Menschen gehört, sondern im Gegenteil der Mensch der Erde gehört“ (Corte Constitucional de Colombia 2016: 117, Übersetzung d. Autorin). Das Urteil schreibt den „Schutz, die Wiederherstellung, die Pflege und die Erhaltung“ (Corte Constitucional de Colombia 2016: 140) des Wassereinzugsgebiets des Atrato vor. Es enthält darüber hinaus 13 Anordnungen, die durch die Erstellung von „Aktionsplänen“ umgesetzt werden sollen, und zwar unter der Leitung einer Wächter:innenkommission: Sprecher:innen des Flusses, als Stellvertreter:innen der Gemeinschaften und des Staates. Die Stimme des kolumbianischen Staates ist das Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung. Aufgrund der Vielfalt und Komplexität des Einzugsgebiets und der kollektiven Prozesse der schwarzen, indigenen und mestizischen Gemeinschaften argumentierten diese, dass „[...] ein:e Wächter:in nicht den ganzen Fluss kennen würde. Der Fluss, der in Carmendel Atrato beginnt, ist nicht derselbe Fluss, der in den Golf von Urabá fließt. Der Faden des Flusses webt viele Fäden, und er verändert sich, so wie sich die Menschen, die sein Becken bewohnen, verändern“ (Cagueñas, Galindo und Rassmussen 2020: 177, Übers. d. Autorin). Es gibt landwirtschaftliche, bergbauliche und heilige Flüsse.
Nähert man sich der Frage der Repräsentation aus der Perspektive einer relationalen Ontologie, dann geht es hier um die Anerkennung der vielfältigen und multiplen Existenzen des und mit dem Atrato-Fluss.
So wurde das Kollegialorgan der Wächter:innen des Río Atrato (CCGA) mit sieben Organisationen schwarzer, indigener und mestizischer Gemeinschaften gebildet, die größtenteils von einem Mann und einer Frau aus jeder Organisation vertreten werden. Die CCGA ist eine heterogene, generationenübergreifende Gruppe, in der „[I]ndigene, Mestizen, Bauern und Schwarze versuchen, dieselbe Sprache zu sprechen, die, ohne die verschiedenen Arten der Beziehung zum Fluss zu ignorieren, auf die Neuerfindung des Lebens am Ufer abzielt“ (Cagueñas, Galindo und Rassmussen 2020: 192, Übers. d. Autorin). In diesem Sinne versammelt sich die CCGA, um die Stimme des gemeinsamen Atrato zu artikulieren, „weil wir in der Verteidigung des Flusses eine Stimme sind, wir wissen, dass wir unterschiedlich sind und unterschiedliche Vorstellungen haben, aber wir teilen die Verteidigung des Atrato-Flusses, weil das, was mit dem Fluss geschieht, uns alle betrifft“ (Alexander Rodríguez, Wächter des Atrato für COCOMACIA, 14. 05.2021, Quibdó, Übers. d. Autorin).
Infolge dieses Urteils wird der Atrato-Fluss gehört. Bei einem Gespräch am Flussufer in Quibdó im März 2020 beschrieb Alexander den Prozess um das Urteil wie folgt: „Das Gericht hat zu unseren Gunsten entschieden, sie haben uns angehört, und das schließt uns in den Prozess ein, sodass unser Territorium nicht weiterhin vom Zentrum des Landes aus verwaltet wird“ (Alexander Rodríguez, Wächter des Atrato für COCOMACIA, 14.05.2021, Quibdó, Übers. d. Autorin).
Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich gehört und verfolgt (siehe: https://entre-rios.net/atrato/), wie die CCGA die Zivilgesellschaft vertritt und somit die Stimme des Atrato-Flusses hört und artikuliert: Die sogenannten „Aktionspläne“ werden gemeinsam mit staatlichen Institutionen und Atrato-Gemeinschaften der verschiedenen Nebenflüsse und Flüsse erstellt – mit dem Ziel, dem Fluss und seinen Bewohner:innen bis zum Jahr 2040 alle Rechte zurückzugeben. So sucht die CCGA nach anderen möglichen kollektiven Zukünften vom und mit dem Atrato, basierend auf den Postulaten des „vivir sabroso“ (würdiges und autonomes Leben, Quiceno 2016).
Während dieses Prozesses artikuliert sich die Vielfalt der Stimmen und Gemeinschaften, die im Atrato zusammenkommen, um den Fluss und das Leben am Fluss neu zu imaginieren, zu repräsentieren, für die rechtliche Sphäre zu übersetzen und vice versa. Was bedeutet es jedoch, die Stimme des Atrato zu sein und für ihn zu sprechen?
Die CCGA übernimmt die rechtliche Vertretung des Flusses und ist seine Fürsprecherin, nicht nur im bürokratischen und juristischen Bereich und im Dialog mit dem Staat, sondern auch, wie es die Hüter:innen des Flusses ausdrücken, durch die Schaffung von Gesprächsräumen und die Etablierung von lokalem Dialog und Pädagogik. Dies dient dazu, das Urteil T-622 lokal und international bekannt zu machen und das Bewusstsein für die Situation in Chocó zu schärfen. Sie zielen darauf ab, sichtbar zu machen, was den Fluss und die Menschen, die mit dem Fluss leben, betrifft, da sie durch das Leben mit dem Wasser des Flusses co-konstituiert sind.
Die Sprache des Flusses zu sprechen hat mit der Fähigkeit zu tun, sie durch den Körper zu vermitteln, wie der Wächter des Atrato und Vertreter der Mesa Indígena, Nixón Chamorro, sagt: „Der Ausdruck des Flusses ist etwas, das man lebt“ (Cagueñas, Galindo, und Rassmussen 2020: 184). Er ist ein integraler Bestandteil von Erfahrung und Erinnerung. Die Realitäten sozialer Gruppen und Beziehungswelten werden durch konkrete Praktiken, Erzählungen und Geschichten mit und über den Fluss manifestiert. Die Sprecherrolle der CCGA wird durch das verkörperte Bewohnen spezifischer Erinnerungslandschaften ausgeübt, die durch die Beziehung zum Fluss geformt wurden.
Die Mitglieder der CCGA argumentieren, dass sie ombligados (Nabel) des Territoriums sind: Ihre Verwandten säen bei der Geburt die Nabel ihrer Kinder am Flussufer aus, was sie in direkter Verbindung hält mit dem Territorium und ihrer Herkunft, wie Hüterin Luz Enith Mosquera (2021) in verschiedenen Gesprächsräumen erklärt. Deshalb lautet das zentrale Motiv des CCGA „Atrato es, Atrato soy, Atrato Somos y debemos seguir siendo“ („Atrato ist, Atrato bin ich, Atrato sind wir und müssen wir weiter sein“). Dieses Postulat basiert auf der Ubuntu-Philosophie „Soy porque Somos“ („Ich bin, weil wir sind“; Mosquera, Rojas, Gómez, Escobar 2018). Dies spielt auf ihre Seinsbeziehung mit dem Atrato an, des Seins in Erweiterung und in Kontinuität mit dem Atrato: Der Fluss bewohnt ihre Körper und manifestiert sich durch sie, durch ihre Praktiken und kulturellen Repertoires.
In diesem Sinne schlage ich vor, den Repräsentationsprozess der CCGA mit dem Konzept des „voicing rivers” (zu Deutsch: “Flüsse stimmhaft machen“) zu verstehen. „Stimmhaft machen“ steht für den ständigen Prozess der Relationalität. Als Verb unterstreicht es das In-Beziehung-Sein zu und mit dem Fluss. Als Sprecher:innen des Atrato erweitern die Mitglieder der CCGA die Praxis der gegenseitigen Vertretung von Menschen. Den „Stimmen der Flüsse“ zuzuhören bedeutet daher, dem Konzept zu folgen, das Marisol De la Cadena in ihrem Werk "Invitation to Live Together: Making the 'Complex We'" (2019) beschreibt. Es handelt sich um ein Multi-Spezies-„Wir“, in dem das “Mit-Sein” durch menschliche und übermenschliche Beziehungen miteinander entsteht, in einer unendlichen Komposition, einer mehr-als-menschlichen Intra-Verbindung mit dem Bios und Geos (De la Cadena 2019).
Als „komplexes Wir“ beansprucht die CCGA das kollektive Wir, das als interdependent, interethnisch und als Erweiterung des Bassins der Polyphonie erkannt wird. Die Einladung, das „komplexe Wir“ zu bewohnen, wird als Einladung zum Zusammenleben verstanden, wie es die CCGA praktiziert, durch ihre angestammten Verbindungen und Praktiken zum und mit dem Fluss.
Wie Eckersley (2011) argumentiert, bestand die Herausforderung immer schon darin, das, was als „Natur“ definiert wurde, so darzustellen, dass es nicht zu einem bloßen Objekt, Instrument oder einer Kulisse reduziert wird, vor der sich das menschliche Drama entfaltet.
Die Darstellung dessen, was im Recht und in den ‘Rechten der Natur’ als „Natur“ gilt, kann in einigen Fällen immer noch die Kluft zwischen Kultur und Natur reproduzieren. Wichtig ist daher ein ethischer und ontologischer Anspruch und Wandel sowie institutionelle Innovationen (Eckersley 2011, 328). Darin liegt die Aufforderung, die Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Interdependenzen zwischen Menschen und dem, was als „Natur“ definiert wird, anzuerkennen (Plumwood 2009).
In diesem Sinne erweitert die CCGA das Verständnis von Naturdarstellung durch ihre Praktiken des “Flüsse stimmhaft machen“ und definiert gleichzeitig neu, was oder wer ein Fluss ist. Um Flüssen eine Stimme zu geben, ist es wichtig zu hinterfragen, wer und wie man ihnen zuhört. Wie hören Sie selbst den Flüssen und ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu? Es kann festgestellt werden, dass der Atrato immer wieder getost und gebrüllt hat, und sich in verschiedenen Stimmen manifestierte. Damit hat er das Gesetz überschritten und erweitert und eine onto-epistemische Öffnung der Definition dessen erreicht, was oder wer Flüsse sind.
Stand Anfang 2024. Aktuelle Entwicklungen um die Rechte der Natur sind auf der Open-Access-Plattform des EcoJurisprudence Monitor zu finden.
Aus dem Englischen übersetzt von Imke Horstmannshoff.
Literatur & Links:
- Guardians of the Atrato [ES].
- Elizabeth Gallon Droste: "Embarcarse a navegar con el Atrato: Diario de campo multimodal". Curated by Lisa Blackmore for entre – ríos (2022).
- Blaser, Mario & Marisol De La Cadena. 2017. "The Uncommons: An Introduction". Anthropologica (59): 185-193 [EN].
- Cagueñas, Diego, María Galindo & Sabina Rasmussen. 2020. “El Atrato y sus guardianes: imaginación ecopolítica para hilar nuevos derechos”. Revista Colombiana de Antropología 56(2): 169-196 [ES].
- Corte Constitucional de Colombia. 2016. Sentencia T-622 de 2016. Bogotá [ES].
- Gallon Droste, Elizabeth. 2023. «Voicing ~ Listening to Rivers of Gold». En Wasser Botschaften, editado por Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt – MARKK –, 248-265 [EN].
- De la Cadena, Marisol. 2019. "An Invitation to Live Together: Making the 'Complex We". Environmental Humanities 11(2): 477-484 [EN].
- Eckersley, Robyn. 2011. "Representing Nature". In: Sonia Alonso, John Keane and Wolfgang Merkel (eds.), The Future of Representative Democracy. Cambridge: Cambridge University Press, 236–257 [EN].
- Lemaitre Ripoll, Julieta. 2009. El derecho como conjuro: fetichismo legal, violencia y movimientos sociales. Bogotá: Siglo del Hombre Editores y Universidad de los Andes [ES].
- Mosquera, Marilyn Machado, Charo Mina Rojas, Patricia Botero Gómez & Arturo Escobar 2018. Ubuntu: Una Invitación Para Comprender La Acción Política, Cultural y Ecológica de Las Resistencias Afroandina y Afropacífica. CLACSO [ES].
- Plumwood, Val. 2009. "Nature in the Active Voice". Australian Humanities Review 46: 113–12 [EN].
- Quiceno, Natalia. 2016. Vivir sabroso: luchas y movimientos afroatrateños, en Bojayá, Chochó, Colombia. Bogotá: Editorial Universidad del Rosario [ES].
- Rogelis, Rodrigo, et al. 2022. El Atrato es la vida. Conflicto armado y economías extractivas en el río Atrato. Bogotá: Foro Interétnico Solidaridad Chocó y Centro Sociojurídico para la Defensa Territorial SIEMBRA [ES].